Zum Zug (Kurzgeschichte)

Heute ist es wieder so weit. Heute fährt er raus. Raus in die große weite Welt. Es ist ein Entfliehen, ein wieder Aufstehen. Wiederauferstehen. Der Sonne entgegen und erfahren, wie Freiheit schmeckt.

Ein schöner Sommertag. Die gelbliche Himmelskugel gibt ihr Bestes und tanzt mit ihren Freunden, den Wolken, Tango. Der Wind gibt den Takt an und pfeift gleichzeitig die Melodie. Eine nie enden wollende, kein One-Hit-Wonder. Obwohl: Ein Wunder vielleicht doch.

Einmal sieht er sich noch um. Er sieht sich um, als wäre es das letzte Mal. Hat alles seinen Platz? Nicht irgendwie irgendwo, sondern wie es sein soll? Alles eingepackt? Wahrscheinlich. Als würde nun ein komplett neues Kapitel beginnen und als gäbe es kein Zurück. Und auf nach draußen!

Nächster Halt: Der kleine, städtische Bahnhof. Da er zwar von Zeit zu Zeit ein Schwarzdenker, allerdings kein Schwarzfahrer ist, hat er alles vorab gebucht, sowie es jedoch mal zu sein hat. Die Autofahrt dorthin ist nicht allzu lange. Man nimmt relativ viel Verkehr wahr, da es mittags ist und die Ersten schon wieder von der Arbeit nach Hause fahren oder sich in der Mittagspause etwas zu Essen besorgen. Ein paar einigermaßen, also vom Sehen her, bekannte Gesichter tummeln sich auf den Rad- oder Gehwegen. Bei Letzteren, aber auch bei den unzähligen Fremden fragt er sich unweigerlich: „Wo die wohl hin wollen?“

Am Bahnhof selbst herrscht ein noch regeres Treiben als zuvor auf den Straßen. Ungewohnt, denn sonst ist an diesem Ort nicht soviel los. Ein Ort, der zum Sinnbild wird. Ankommende, Weiterziehende, Wartende, nie ans Ziel kommende, auf ein Ziel hoffende, und bis zum Ziel nie Aufgebende treffen hier unweigerlich aufeinander. Unausweichlich, egal ob sie wollen oder nicht. Sie können sich, so gesehen, nicht ausweichen. Zu welcher Gruppe gehört er nun? Das gilt als unsicher.

In dem gegenwärtigen Moment allerdings gehört er zu den Wartenden. Einer, der geduldig ausharrt und nicht aufgibt, ehe er sein Ziel erreicht hat. Einen Ort, den man als den Mittelpunkt bezeichnen und charakterisieren könnte. Alle Fäden laufen da zusammen und gehen von dort weg. Und schon wieder ein Sinnbild.

Zur Abwechslung ist das Warten mal nicht umsonst. Der Zug kommt, und zwar sogar pünktlich. Er steigt ein, begibt sich zu seinem Platz am hinteren, linken Fenster und lässt seinen Blick durch die Menge schweifen. In dem Abteil sind viele Langstreckenreisende. Entweder geschäftlich oder auch privat. Dort drüben, am vorderen rechten Fenster, sitzt sogar einer, der gerade in französischer Sprache eine dienstliche Videokonferenz abzuhalten scheint.

Auf der anderen Seite des Abteils, rechts vom französischen Geschäftsmann, sitzt eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern. Sie trägt ein knallgelbes Sommerkleid mit grünen Kreisen darauf. Ihre langen, glänzend schwarzen Haare hat sie mit einem violetten Haarreifen zurückgebunden. Zu seiner Überraschung scheint sie Spanisch zu sprechen. Die junge Dame ist äußerst beschäftigt damit, ihren Kindern zu verstehen zu geben, dass diese sich ruhig und angemessen zu verhalten haben. Beim Beobachten dieser Szene fällt ihm ein Vers von Danzer ein: „Traurig aber wahr (…) dass a Frau nur frei sein kann, wann’s ned abhängt von an Mann, dass a Kind betrogen wird, dadurch dass’s erzogen wird .“ Kinder sind Seelen in Ursprungsform.

Er fängt an, durchs Fenster zu schauen, an dem er sitzt. Die Landschaft schnellt in beispielloser Geschwindigkeit vorüber. Es ist Frühsommer und alles erstrahlt in den kräftigsten Farben. Die Bäume und Wiesen schimmern wie Smaragd. In der Ferne sieht er sichtlich zufriedene Kühe grasen. Das ganze Universum scheint ausnahmsweise mal im Einklang zu ein. Er macht sich Gedanken über Gegenwart und Zukunft. Auf einmal kommt ein junger Mann auf ihn zu, der fragt, ob er gerne eine Wasserflasche hätte. Dankend lehnt er ab. Keine zwei Minuten später erscheint der Zugbegleiter, um die Fahrscheine zu kontrollieren. Alles muss seine Ordnung haben.

Bald ist es so weit. Umstieg. Davor ist er immer etwas nervös. Ob dabei alles klappt? Bis dato war es jedenfalls so. Das ist aber nicht zwingend immer so, denn wie der Teufel es will, steht in den nächsten Minuten abermals der Zugbegleiter vor ihm, welcher verlauten lässt, dass er wegen einer Garnituränderung nicht mitfahren könne. Eh klar, der Vergessene.

Der Mann mit der roten Krawatte ist jedoch noch nicht fertig mit seinen Ausführungen und schlägt den nächsten Anschlusszug als Alternative vor. Erleichterung. Alles unter dem sprichwörtlichen Dach und unter dem umgangssprachlichen Fach. Weil es Gott so will und dieser Weg deshalb gegangen werden muss.

Als der Umstieg erfolgt ist, findet er sich in einer ebenfalls gut gefüllten S-Bahn wieder. Hier sind nun überwiegend Schüler an Bord. Hauptschüler, wie auch Berufsschüler. Der Lärmpegel ist entsprechend hoch. Lasst Kinder ungeschliffen sein!

Links neben ihm sitzt eine Gruppe Schüler, die sich gerade sehr lebhaft über menschliche Ausscheidungen unterhält. Anecken und Grenzen austesten sind eben wichtige Erfahrungen. Selbsterkenntnis auch. Auch hier werden schließlich wieder Fahrscheine kontrolliert. Er erwirbt eine S-Bahn-Karte und konzentriert sich auf das große Fenster, welches sich jetzt vor ihm befindet.

Eine wunderschöne Landschaft entfaltet sich auf dieser Strecke. Gedanke: Gott ist ein Künstler, der nach seinen Regeln malt und als der Meister seines Fachs schlechthin gilt. Seine Lieblingsfarbe scheint Grün zu sein, die Farbe der Hoffnung.

Plötzlich steigt ein Junge ein. Sein Gesicht ist zur Hälfte mit einem Tuch aus Stoff bedeckt. Im Fokus hat er sein Handy, an dem der Schüler sich ohne Kopfhörer Kurzvideos auf sozialen Netzwerken ansieht. Er setzt sich auf einen Gangplatz an jenes Fenster, durch das unser Reisender durchsieht und die Schöpfung voller Dankbarkeit betrachtet. Der Zugestiegene scheint sich nicht für das wirkliche Universum zu interessieren. Jeder von den Mitfahrenden kann die Musik seiner Filmchen hören und niemand kommt mehr normalen Schrittes an seinen Füßen vorbei. Nicht mal die alte Dame, welche in Peggau aussteigt, bekommt genügend Platz dafür und muss sich beinahe vorbeidrängen. Die Landschaft kann der junge Mann schon gar nicht sehen, da er mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Ein seelisch Gedemütigter.

Mittlerweile zählt unser Reisender schon die Zwischenhalte. Noch vier. Bald ist es so weit, bald ist es geschafft. Er sinniert noch etwas über alles Seiende und Gewesene, aber vor allem über das Kommende. Dabei kommt er in die Mitte. In die Mitte seiner Existenz.

Endlich! Das Ziel ist erreicht! Ab zum Treffpunkt! Dort bleibt sogleich das Raum-Zeit-Gefüge stehen. Gott, lass es so bleiben wie es ist. Lass das Universum ohne Grenzen durch Raum und Zeit oder sonst etwas auf uns wirken.

Aber nach einer unbestimmten Zeit, da ist es gewiss und er sagt:

„Anmutige, ich komme wieder und irgendwann bleibe ich, aber nun muss ich zum Zug.“

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