Die phänomenologische Psychologie

Die Phänomenologie versucht Phänomene möglichst sorgfältig zu beschreiben, ohne sie gleich in eine wissenschaftliche Denkschublade einzuordnen.

„Das Vorgefundene zunächst einfach hinzunehmen, wie es ist; auch wenn es ungewohnt, unerwartet, unlogisch, widersinnig erscheint und unbezweifelten Annahmen oder vertrauten Gedankengängen widerspricht. Die Dinge selber sprechen zu lassen, ohne Seitenblicke auf Bekanntes, früher Gelerntes, ‚Selbstverständliches’, auf inhaltliches Wissen, Forderungen der Logik, Voreingenommenheiten des Sprachgebrauchs und Lücken des Wortschatzes. Der Sache mit Ehrfurcht und Liebe gegenüberzutreten, Zweifel und Misstrauen aber gegebenenfalls zunächst vor allem gegen die Voraussetzungen und Begriffe zu richten, mit denen man das Gegebene bis dahin zu fassen suchte“ (Goethe, 1749-1832).

Diese Formulierung bezeichnet im Kern die anspruchsvolle Haltung des phänomenologisch forschenden Psychologen. Ausgangspunkt der Phänomenologie ist das Bemühen, das, was einem gegeben ist, möglichst sorgfältig zu beschreiben, ohne es gleich in eine wissenschaftliche Denkschublade einzuordnen. Man kann also von einer Deskriptiven Psychologie sprechen. „Phänomenologie“ kann nicht mit der gleichnamigen philosophischen Teildisziplin gleichgesetzt werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte daher von einer „phänomenologischen Orientierung in der Psychologie“ gesprochen werden.

Die Intentionalität der Person-Umwelt-Beziehung

Die Kernannahme der phänomenologischen Vorgehensweise ist die Intentionalität der Person-Umwelt-Beziehung. Jedem intentionalen Akt ist ein Korrelat (Objekt) zugeordnet, auf welches sich das intentionale Subjekt (die Person) bezieht. Folglich bezeichnet Intentionalität ein aktives Verhältnis zwischen Person und Umwelt. Methodologisch ergibt sich daraus, dass die analytische Einheit nicht die Person in ihrem „Erleben“ und „Verhalten“, sondern die „intentionale Person-Umwelt-Relation“ ist. Intentionale Analyse ist dann letztlich immer Situationsanalyse. Wenn man Phänomen als das definiert, was einem begegnen kann, dann sind mehrere Unterscheidungen in Betracht zu ziehen:

Begegnung kann nur mit Bewusstseinsfähigem stattfinden

Zur Begegnung gehört zuerst ein „Bemerken“. Ausgeschlossen sind damit alle nicht-bewussten Prozesse. Ebenso bleiben Lernprozesse ausgeschlossen, wenn sie nicht selbst als Änderung oder ähnliches erlebt werden. Keine phänomenale Betrachtungsweise kann die Systematik der Ebbinghausschen Lernkurve enthüllen. Diese Feststellung ist von entscheidender Bedeutung: Die Systematik phänomenalen Materials muss selbst nicht phänomenal sein.

Begegnung kann nur im Konkreten stattfinden

Ich-induzierte Prozesse des Psychischen wie „ich denke“ oder „ich fühle“ sind selbst nicht erlebt. Phänomenologie im hier verstandenen Sinn ist keine Introspektionspsychologie, da sie nicht den psychischen Prozess, sondern nur das konkret Begegnende beschreiben kann. Die Betonung auf das konkret Begegnende macht den phänomenalen Bericht zu einer Beschreibung dessen, was sich abspielt, wenn das Ich mit anderem in Beziehung tritt. Dabei ist weder das „Ich“ noch das „andere“ phänomenal gemeint, sondern lediglich das „in Beziehung treten“.

Begegnung versus „Innerlichkeit“

„Bewusstseinstatsachen“ oder „Erlebnisse selber“ können nicht Gegenstand einer phänomenalen Psychologie sein. Beide Begriffe verdoppeln den Gegenstand, der einmal vorhanden ist als der objektive, zum andern als der psychisch verarbeitete. Der Ansatz der Innerlichkeit führt zur Untersuchung des psychischen Prozesses und konzentriert sich dazu auf die Methode der Selbstbeobachtung.

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Begegnung versus „Äußerlichkeit“

Die identische Verdopplung des Gegenstands findet statt, wenn in behavioristischer Methodik die physikalische Beschreibung als verbindlich eingesetzt wird. Phänomenologie ist nicht „Bedeutung“, sondern ein eigener Beschreibungsmodus mit eigenem Datensystem. Phänomenal sind zum Beispiel die beiden Streckenhälften der Müller-Lyer-Figur ungleich lang. Erst wenn der physikalische Maßstab zu Hilfe genommen wird, entsteht aus der Müller-Lyer-Figur die Müller-Lyer-Täuschung. Konsequente Phänomenologie darf einen solchen Täuschungsbegriff nicht akzeptieren: Getäuscht ist bei der Müller-Lyer-Figur nicht der, der sagt, die Strecken seien ungleich, sondern der, der nachmisst. Er wirft zwei Datensysteme durcheinander.

Die wichtigsten Funktionen der phänomenologischen Methodik

Gerade weil die so verstandene Phänomenbeschreibung beziehungsweise Deskriptive Psychologie, auf das Aus ist, was man als Gegebenes vorfindet, ist ihre erste Funktion eine kritische. Sie fragt beharrlich nach die Sache betreffenden Vorannahmen und Selbstverständlichkeiten, die den unmittelbaren Blick auf den Sachverhalt verdecken könnten. Darüber hinaus versucht sie, die in psychologischen Theorien impliziten Ideologien und Weltanschauungen zu identifizieren. Eine weitere wichtige Funktion ist die intentionale Deskription, also die Mitanalyse des Verhaltens- und Handlungssinnes.

Literatur


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